Dienstag, 20. Dezember 2022

Was geht mich der Krieg an?

Der Krieg in der Ukraine ist - Gott sei Dank - weit weg. Schön, wir könnten den Fernseher ausmachen und hätten nie wieder etwas mit dieser Gewalt zu tun. Kiste aus und Ruhe. Ich kann das. Ich brauche das. Für meinen inneren Frieden. Aber irgendetwas stimmt da nicht. Der Krieg geht nicht weg, nur weil ich die Glotze ausstelle oder mich durch Kurzweil abzulenken versuche. Ich bin 55 und ich glaube, der Krieg steckt in uns allen. In jedem, in jeder von uns. Auch wenn wir noch so schnell durch die Geschäfte rennen, noch so oft den Fernseher ausmachen, noch so mitfühlen oder Desinteresse zeigen. Wenn wir glauben, unsere Kinder haben nichts mehr damit zu tun, die Babys von heute schonmal gar nicht. Das Geschwür Krieg ist in unser aller Zellen angelegt. Von der Urgroßmutter zur Großmutter, von den Eltern zu mir, von mir zu meiner Tochter, zu den Kindern von jetzt und von morgen.

Die Oma war im ersten Weltkrieg 17. Eine junge Frau, die sich verliebt hat. In Bruno, meinen Opa. Als sie junge Eltern sind, tobt der zweite Weltkrieg. Meine Mutter kommt auf die Welt, wird mit auf die Flucht genommen. Ihre kleinen Augen sehen tote Babys, kaputte Häuser, spüren Angst und Hetze, riechen Rauch. Sie hat Hunger, Schmerzen vor Hunger. Sie hat eine Mama, aber der Papa ist weg. Er wird erst Jahre später wieder da sein. Die Mutter eine starke Frau, vor der Tür ein zerbombter Mann. Kein Held. Helden waren sie alle nicht, obwohl man es ihnen eingeredet hatte. Bevor sie zu Kanonenfutter wurden. Am Ende wurden sie still und heimlich hereingelassen. Er war kaputt, zerschossen, wurde jährzornig, starb früh. Meine Großmutter, eine junge Frau. Einst stark, unterwirft sich, lässt ihn glänzen. Es wurde nicht geredet. Nicht über Krieg. Es wurde nicht gefühlt, nicht geweint. Der Krieg ging uns nichts an. Er ging niemanden mehr etwas an.

Dann bekommt meine Mama Kinder. Sie zeigt selten Gefühle. es wird nicht gefühlt. Es wird nicht geweint. Auch nicht, wenn der Papa schimpft. Es geht niemanden etwas an, darüber spricht man nicht.

Papa ist im Krieg ein kleiner Junge. 7 Jahre alt, Rotznase. Auch er atmet den kalten Rauch der Zerstörung ein. Es ist keiner für ihn da. Alle sind beschäftigt. Steine klopfen, Bomben aushalten, wiederaufbauen, trauern? Keine Zeit für Trauer. Geschwister sterben. Onkel, Tanten. Sie klauen Rüben, um zu überleben.

Als sie sich kennenlernen, ist er 17, sie 14. Über Gefühle wird nicht geredet. Niemals. Man lebt, funktioniert, redet nicht. Nicht über das Gute, schon gar nicht über das Schlechte. Weder von damals noch von heute. Im Krieg sterben Gefühle. Kinderseelen sterben. Die Kinder werden erwachsen, verlieben sich in andere Kriegskinder. Kriegsenkel kommen auf die Welt. Der Papa stirbt zu früh. Zerfressen vom Krebs. Er hat nie geredet. Aber geweint. Am Ende hat er viel geweint.

Frau Berger hat zu viel Alkohol getrunken und ist in einer kalten Nacht "in den Kanal gegangen". Herr Schobner war schon früh tot. Zu viel Alkohol. Frau Schulze, Krebs. Ganz früh tot. Herr Schicht wird irgendwann betrunken einen Menschen zu Tode fahren. Herr Beilmann hängt sich auf. Jeder meiner Jugendfreunde verliert sehr früh einen Elternteil. Fast wie damals im Krieg. Eben nur heute.

Was geht mich der Krieg an?