Mittwoch, 15. November 2023

Das letzte Drittel - Die Ohren

 

Ich wünsche mir, dass meine Ohren nicht ständig wie fremdgesteuerte Mini-Kohlköpfe weiterwachsen. Fehlanzeige. Da stehst du vor dem Spiegel und denkst: „Sie wachsen. Sie wachsen doch!“ Nix mehr mit: „ich mag meine kleinen Ohren“. Wobei … früher sagte man, Menschen mit kleinen Ohren seien dümmer als Menschen mit großen Ohren. Ich hab’s echt geglaubt. Niemals war jemand von einer Thesen-Behörde mit einem Zentimetermaß an meinen Lauscherchen. Aber ich habe es geglaubt und mich jahrelang für ein bisschen dumm gehalten.

Mittlerweile verabschiede ich mich jeden Tag vor dem Spiegel ein bisschen mehr von meinen kleinen Öhrchen. Trotz Dummheit habe ich sie gemocht. Nun wachsen sie. Warum und wohin? Keine Ahnung. Sie tun es einfach. Irgendjemand am Steuerpult meines Körpers hat den Knopf „Ohren. Wachsen. Ein!“ gedrückt. Ob’s was mit Schlau-Werden zu tun hat?

Jetzt bin ich nicht die große Schmuckträgerin. Aber den aufkeimenden Entfaltungswunsch meiner Ohren betrachtend, denke ich: „Oh Gott, lass‘ mich keine Alte mit Riesenohrläppchen werden, die am unteren baumelnden Lappen überdimensionierte Talmisteine oder buntes Gebimmsel trägt“. Ganz wichtig: Dabei mit großer schwarzer Brille und roten Fingernägeln an verknöcherter Hand böse dreinblickt. Meine Vorstellung von einer „Alten“ eben. Nun denn, vielleicht greife ich dann jetzt in der Mitte (Mathe 4-) meines Lebens zu Ohrschmuck. Dann sieht es am Ohr schonmal hübsch aus, während es vor sich hinwächst. Kleine zarte Perlen an wachsenden Lappen. Wäre vielleicht auch was für unten rum.

Ich betrachte meinen Körper und frage mich: „Was‘ das los?“ Wir waren nie so dicke. Er sprach wohl zu mir. Ich habe es meistens überhört. Dann schrie er, mit Schmerzen. Da musste ich hinhören. Aber schönheitsmäßig? Er war einfach da. Hat funktioniert, sah ganz passabel aus. Bis auf die Knubbelknie. Jetzt ist es so, als rufe er sich sich Schrittchen für Schrittchen, penetrant nervend und leise schelmisch lächelnd in Erinnerung. „Guck‘ mal, was ich mit deinen Ohren machen kann. Hö hö. Btw … heute schon das arthritische Knie gefeiert?“

Ich gehe successive dem Verfall entgegen. Häppchenweise. Dass es gerade noch zu ertragen ist. Haben schon viele Menschen vor mir gemacht, werden noch viele nach mir erleben. Mein Körper lächelt. Macht einfach weiter mit seiner perfiden Folter. Wissend, dass ich an ihm nicht mehr vorbeikomme. Aufmal bin ich eitel. Ich hasse es, an Attraktivität zu verlieren. „So!“, ruft es von Innen, „nimmste mich doch mal wahr? Dankeschön!“ Ja, bitteschön! Ich bin ja keine Claudia Schiffer. Aber das bisschen Schönheit kannste mir doch wohl lassen!

Es bröckelt. Ich werde alt, noch bevor ich richtig gemerkt habe, dass ich jung war. Mein Körper spult sein Programm ab. Ich sitze in der 1. Reihe und gucke zu. Ohne Eintritt, ohne Popcorn. Wenn ich schon da sitzen muss, dann mit grellem Zeug: Großer Schmuck an großen Ohren, Talmi as Talmi can! Rote Farbe auf alten Lippen, Make up in tiefe Falten. Frisuren, so groß wie Wagenräder. Klamotten, die grell und bunt schreien: „Ich werde alt! Guckt ruhig. SO sieht das aus!!“ Ich bade nicht in Beige, Mauvetaupeschlammsand oder gedecktem Grau.

Frauen werden alt. Männer werden alt. Punkt. Der einzige Unterschied? Männer waren vorher schon oft nicht „schön“.

Duden: schön

/ʃøːn,schö́n/

Adjektiv

  1. 1a.

von einem Aussehen, das so anziehend auf jemanden wirkt, dass es als wohlgefällig, bewundernswert empfunden wird

"ein schöner Mann"