Samstag, 6. März 2021

 Ich gehe ...

... gegen meine Depressionen. Jeden Tag eine Stunde. Irgendwohin und zurück.

Ich schreibe ...

... gegen meine inneren Dämonen.


Stimmt nicht. Das alles stimmt nicht mehr. Gegen meine Depressionen und Dämonen kann ich nicht anlaufen oder anschreiben. Es funktioniert nicht. Ich bin schon lange nicht mehr gegangen, weil es mich nervt. Es nervt, zu gehen, wenn ich nicht gehen will. Für mich, die immer alles zu einem Muss machen muss, der es nicht gelingt, aus dem Lustprinzip heraus zu handeln, ist es Gift, mir etwas vorzunehmen, nur weil irgendein diagnostisches System sagt: Mach das, das musst du tun, damit du das und das erreichst. Bandwurmsätze kann ich.

Will heißen. Wenn irgendein Arzt, in diesem Fall meine Hausärztin, sagt: "Gehen Sie jeden Tag raus und bewegen Sie sich, das ist gut gegen Ihre Depressionen", dann stimmt ein Teil davon. Aber ein anderer eben nicht. Ich kann meine Depressionen nicht weglaufen, oder davonlaufen oder meine Dämonen abschütteln. Andererseits tut Bewegung oft gut. Auch mir. Und so gehe ich raus, wenn mir danach ist. Und ich schreibe, wenn mir danach ist.

Wochenlang habe ich mich damit beschäftigt, ob ich Menschen enttäusche, die hier mitlesen. Ich frage mich, warum ich schreibe, ob es überhaupt irgendwie von Belang ist oder irgendjemandem etwas bedeuten könnte. In meinem Leben war ich dreimal in einer Traumaklinik. Dreimal dachte ich: "Boah, was geht es denen schlecht. Mir geht es gut. Was mache ich überhaupt hier? Ich bin nicht traumatisiert. Nicht so wie die da". Dann hat das Leben mich eiskalt erwischt. Mit 53. Alles, was ich bisher wie mit Spucke zusammengehalten habe, fällt nun auseinander. Und da ist Leere. Die Frage ist, ob nicht nur aus Leere, wieder etwas Neues entstehen kann. Aber erstmal Leere. Die auszuhalten ist richtig schwer.

Nicht, dass ich nicht um meine Vergangenheit wüsste und um den ewigen Kampf, auf dieser Welt irgendwie zurechtzukommen. Mehr als 20 Jahr Therapie, unzählige Aufenthalte in psychosomatischen Kliniken und jahrelange Teilnahme an Selbsthilfegruppen bis heute sprechen eine deutliche Sprache. Aber hier und heute ist mir klar, dass ich ein kaputter Mensch bin, mich kaputt fühle. Meine Persönlichkeit ist praktisch nicht vorhanden, ein Ich spüre ich kaum. Es gab immer nur das Du. Es gab die anderen, um die ich mich zwanghaft kümmern wollte, um mein eigenes Leben nicht in die Hand zu nehmen. Als Kind gelernt, die sich um eine alkoholkranke Mutter kümmert, vom Vater mehr als verlassen, gänzlich alleine dastehend, wird es mir als Erwachsene zum Fluch, was ich als Kind zum Überleben mitbekam. Ich habe meine Tochter als Krücke missbraucht, ebenso meinen Partner. Mal ganz abgesehen davon, dass er wirklich eine tumbe Nuss ist, der falscheste, den ich mir aussuchen konnte. Und dennoch habe ich ihn mir ausgesucht. Stärke in ihm gesucht, verlangt, nicht gefunden und auf die Fresse gefallen. 

An meine Tochter habe ich mich geklammert. Ihr die Luft zum Atmen genommen. Mein Bestes gegeben und doch alles kaputtgemacht. Wenn ich gekonnt hätte, ich hätte gerne alles anders gemacht. Wäre unabhängig gewesen, hätte mein eigenes Leben kreativ ausgefüllt mit meinen Ideen von Leben. Dann wäre das Kind und der Partner dazugekommen. Als Topping aber nicht als alleiniger Lebensinhalt. "Wer bin ich ohne dich?", ein Buch von Ursula Nuber. Darin beschreibt die Autorin ziemlich anschaulich, was co-abhängige Frauen machen. Wie schwer es ist, sich selber genug zu sein. Dahin zu kommen, die eigene Selbstliege und Selbstfürsorge an erste Stelle zu stellen und erfüllt zu leben.

Wer bin ich jetzt ohne euch? Ein nachdenklicher Mensch. Kaputt, müde, traurig, bisweilen so verzweifelt, dass ich mit dem Leben hadere und mir wünsche, ich wache einfach morgens nicht mehr auf. Es würde mich nicht stören. Dann wäre ich weg, dann wären aber auch meine abermillionen sorgenvollen Gedanken nach hinten und vorne gerichtet weg. Und der Schmerz. Der unendliche Schmerz, dass mir alles fehlt. Liebe, Geborgenheit, ein eigener Wille, eine eigene Meinung, Grenzen ...

Wenn ich mich so sehr nach einer eigenen Persönlichkeit sehne und erkennen muss, dass ich schon ein Ich bin, auch wenn mir dieses Ich nicht gefällt, dann komme ich ins Wanken. Wer bin ich? Bin ich so, wie ich bin, okay? Kann ich so leben? Kann ich erfüllt leben, in der Gewissheit, dass nicht alles geht, was man Kopf mir einredet, aber einiges. Vielleicht ein bisschen. Bin ich als Mensch, der als Kind so kaputtgemacht wurde, so vergessen wurde, in der Lage, das anzunehmen und mich damit zu beschäftigen, dass aus mir keine Pilotin, Journalistin, Weltenbummlerin mehr wird? Ist das, was ich habe und erlebe, das Beste, das ich aus meinem Leben machen kann?

Ich habe Angst vor Menschen, ich bin mir selbst oft genug, da mich andere Menschen stressen. In der Stille, im Alleinsein, in der Ruhe und im Rückzug finde ich mich. Und nur da. Im Kontakt mit anderen, besonders mit denen, die mir sehr nahe stehen, verliere ich mich, verschmelze ich mit der anderen Person, finde meins nicht, bin ein Chamäleon. 

Was meinen Partner angeht, ist es gut, dass er weg ist. Er hätte niemals mit mir weitergehen können, da er mental gar nicht in der Lage war, zu begreifen, was mit mir ist. Es ist gut, ohne einen Mann zu leben, allein zu sein. Das gibt mir Zeit, mich mit mir auszusöhnen, nicht mehr dem Wunsch hinterherzulaufen, ein Mann möge mir den Wert geben, den mir mein Vater nie gab. Dieser Partner gab mir Wert und nahm ihn mir wieder. Also ist es wichtig, mehr als wichtig, überlebenswichtig, bei mir zu bleiben. Auszuhalten, dass ich mich wertlos und nicht liebenswert finde. Da ist der Schmerz. Der Schmerz, der mir jeden Tag immer wieder auf's Neue Schnitte in mein Herz ritzt. Und trotzdem bin ich bereit, ihn auszuhalten. Papa ist tot. Er kommt nicht wieder. Und ich bin die, die ich bin. Liebenswert. Trotz oder gerade wegen der vielen angsterfüllten, traumatischen Stunden, Jahre, in meiner Kindheit.

Was meine Tochter angeht. Ich vermisse sie mehr als alles andere auf der Welt. Es tut mir in der Seele weh, dass ich nicht anders konnte. Dass mein Bestes nicht richtig war. Für sie nicht richtig. Sie muss ihren eigenen Weg finden, ihre eigene Verantwortung. Genau wie ich. Ich habe als junge Frau ebenfalls den Kontakt zu meiner Mutter abgebrochen. Die wichtigste Erfahrung in meinem Leben. Gut für mich, schmerzlich für sie. Erst heute weiß ich, wie sehr ihr das wehtat. Und ich würde es wieder tun. Denn jede Familie hat ihre eigene Geschichte, jeder Mensch darin sein Recht auf eigene Handlungen. Ich kann das, was ich meiner Tochter antat, nicht wiedergutmachen. Ich habe mich auf sie gestützt, wollte an ihrem Leben teilnehmen, um mein armseliges, karges nicht zu spüren. Jetzt ist es da. Diese armselige, karge, kalte Leben. Ein Zwischenleben. Job weg, Mann weg, Kind weg. Ich hier, die nicht weiß, was sie will, was sie mag, wohin sie will, was mich erfreut oder ärgert. Kaum innere Grenzen, die meiste Zeit des Lebens hinter mir. Manchmal fühle ich mich so müde, dass ich denke, ich werde nicht alt. All' meine Kraft habe ich als Kind aufgebraucht. Vielleicht es deswegen so, wie es jetzt ist. Ein kleiner Job in einer Schule. Ich bastele viel, betreue bezaubernde und dennoch manchmal kaptte Kinder. Keine hochtrabenden beruflichen Karrierepläne. Wenig Geld, aber keine Schulden mehr. Eine Wohnung, ein altes Auto, der Kühlschrank voll, eine Handvoll guter Freunde, wenn überhaupt. Ich achte auf Vogelgezwitscher, gehe in die Natur, liebe Blumen, guten Kaffee und Zeit. Stille, Raum zum Fühlen, Weinen und Weitermachen.

Das war ein langer Text. Für wen ich ihn geschrieben habe weiß icht nicht. Für mich vielleicht. Zumindest war ich ehrlich. Ich gehe heute nicht raus. Keine Stunde, nirgendwohin.