Mittwoch, 28. April 2021

 

Nackt im Wind

Der Wind kam von vorne. Direkt. Ohne Vorankündigung. Oder doch, mit ein bisschen. Aber dass aus dem Lüftchen so ein Orkan werden konnte, der mir mit solch einer Wucht entgegenschlug ...

1. Klasse. Notbetreuung. 8 kleine Kinderlein, jedes so bezaubernd. Jedes manchmal so nervtötend. Nachdem alle kleinen Menschen ihre Aufgaben heute unfassbar schnell erledigt haben, beschlossen wir, sie zu belohnen. "Wir gehen raus auf den Spielplatz." Antwort: "Ich gehe nicht mit". "Doch, Lisa, wir gehen alle. Du kommst auch mit". Lisa hatte andere Pläne. Erstmal auf der Turnmatte räkeln. Noch fünfmal hören, dass wir jetzt gehen wollen. Schneckentempo zur Garderobe, nicht ohne unablässig zu nörgeln: "Ich bleibe aber hier". 

Merle, meine Kollegin, stand schon an der Flurtür und wartete. Ich ging um die Ecke zu Lisa, setzte mich neben sie und erklärte ihr, dass sie gerne zu Frau Lauben in die kleine Notgruppe gehen könnte, wenn sie keine Lust auf Spielplatz habe. Frau Lauben und die kleine Notgruppe sind jetzt nicht das Straflager, auch ist sie nicht Fräulein Rottenmeier in Reinkarnation. Es gibt einfach eine kleine Runde in der Bibliothek für Kinder, die eine besondere Aufmerksamkeit brauchen. So auch manchmal Lisa. Meine Ansprache an Lisa war aber eher die Initialzündung für ein unfassbar lautes Geschrei: "Geh weg! Lass mich in Ruhe!! Jetzt geh' endlich, ich geh' nirgendwohin!" Lisa zitterte am ganzen Körper, schrie und trampelte mit den Beinen auf den Flurboden.

So fühlt es sich also an, wenn man von einem ganz hohen Anspruch runterfällt in den ganz tiefen Abgrund der Hilflosigkeit. Ich wusste nicht mehr, was richtig oder falsch ist. Rückzug. Mehr fiel mir nicht ein. Mit pädagogischem Blabla, nettem Gerede, noch mehr Druck wäre Lisa im Zweifel einfach nur noch auf mich losgegangen, hätte mich mit ihren gefletschten Zähnen in blutige Stücke zerrissen (so zumindest der Film in meinem Kopf). Rückzug bis zur Flurtür, wo Merle mich mitfühlend ansah und meinte, das hätte Lisa bei ihr auch schon öfter gezeigt und sie würde sich dann einfach zurückziehen. Lisa käme dann schon nach.

Sie kam nach. Merle ging voran, dahinter 7 Kinder, dann ich. Im Abstand von 10 Metern Lisa. Nicht ohne mir böse Blicke zuzuwerfen, wenn ich mich nach ihr umdrehte, um aufzupassen, ob sie noch da ist. Schließlich verlassen wir das Schulgelände und überqueren auf dem Weg zum verheißungsvollen Spielplatz eine Hauptstraße. Als alle kleine Scheißerchen versorgt waren ... buddeln, rutschen, klettern, schaukeln... drehte ich mich mit den Rücken zu ihnen und weinte leise vor mich hin. Merle tröstet mich, aber ich war so schockiert, so betroffen von der Heftigkeit der Reaktion dieses kleinen Menschen. Ich war so hilflos und kam mir so unfassbar blöde vor, wie ich da im Schulflur vor ihr kniete und sie zum Mitkommen bewegen wollte. F...!

Ich weiß nicht, was es war. Auch Merle weiß nicht, was es ist, woher es kommt, warum es kommt. Ich weiß nur eins. Das nächste Mal gebe ich Lisa trotzdem wieder eine Option und ziehe mich wieder zurück. Aber ich werde nicht aufhören, sie zu lieben. Ich werde nicht sauer sein, enttäuscht sein, sie ablehnen oder was weiß ich. Ich werde meine Hilflosigkeit einfach annehmen und aushalten. Bringt mich ja nicht um. Nachdem ich mein Herzchen aufgeräumt hatte, drehte ich mich um und sah den Kindern beim Spielen zu. Sonne, Wärme, Vogelgezwitscher, es gibt schlimmere Jobs. Plötzlich steht Lisa neben mir: "Duhu? Es tut mir leid, dass ich dich vorhin angebrüllt habe. Entschuldigung." Sie sieht mich schüchtern an. "Ach, weißt du", sage ich "ich entschuldige mich auch, habe vielleicht auch einen Fehler gemacht". "Vertragen wir uns wieder?", fragt sie. "Ja klar", sage ich und schaue sie liebevoll an. Plötzlich liegt sie in meinen Armen. Und da will sie die nächsten 5 Minuten auch nicht mehr weg. "Kommst du mit schaukeln?". 

Ich bin ein Mensch. Ich weiß es nicht besser. Schön, wenn Lisa nach Hause geht und weiß, sie kann weiter von der Schaukel abspringen als Frau Beerhorst.