Montag, 7. Juni 2021

 

Tour de Ikea oder am Ende wird es schön - Rückfahrt

Den Sessel in den Wagen gewuchtet. Noch schnell ein plörriger Kaffee und eine nach Pappe schmeckende Zimtschnecke und ab nach Hause. Die Spur Richtung Autobahn war so unfassbar voll, dass ich beschloss, einfach geradeaus weiterzufahren anstatt mich ordnungsgemäß links in den Zubringer einzufädeln. Also ab durch's Halbruhrgebiet Richtung Unna, Hamm, Münster. Nur leider ohne Navi. Aber mit Entdeckergeist im Blut. Kann ja nicht sooo schwer sein, ohne elektronische Stimme nach Hause zu finden. Rechts und links rauschen Häuser an mir vorbei, deren Stil ich eher ohne Stil wahrnehme. Grau, alt, kaputt, Steine in Farben, die eher an Erbrochenes erinnern, denn an Wohlfühlwohnen. Aber vor jeder Hütte ein unfassbar großes, neues Auto. Ab und an Fachwerk. So hässlich, dass man meinen könnte, in diesem Streifen zwischen Ruhrgebiet und Münsterland haben sie sich einfach mal für nichts entschieden, oder für irgendwas dazwischen halt. Schön, ohne schön zu sein. Hässlich auf schön gemacht. Wie auch immer. Alte Zechentürme, eine alte Backsteinkirche auf der rechten Seite. Links in der Ferne, die wunderbare Silhouette von Hamm-Uentrop. Atommeiler. Dann auf der linken Seite ein runtergekommener Weg zu einer noch runtergekommeneren alten Kokerei. Ja, dann da mal rein. Ein paar Bilder von rotten Industrieruine kann ja auch ganz schön sein.

Ich bin also durch das alte nach DDR anmutende Tor, das die Natur sich langsam zurückerobern zu schien. Vorbei an einem alten Wärterhäuschen, in dem schon lange niemand mehr wartet. Geparkt, ausgestiegen, Kamera gezückt und los. Aber halt. So einfach los ging dann doch nicht. Ein Mensch trat aus dem Wärterhäuschen, ich drehte mich um, weil ich jemanden wahrnahm. "Kann ich hier ein paar Fotos machen. Nur für mich?", rief ich. Er lächelte nur. Also, dachte ich, dann warte ich mal nicht auf dein Okay und ging einfach weiter. Es schien okay für ihn zu sein, er verschand wieder in der alten Pappbude ohne Fenster. Ich ging weiter. Vor mir tat sich ein riesen Gelände auf. Links eine alte, rußgeschwängerte Ruine mit offener Seite, wie eine offene Wunde. Direkt vor mir ein alter hoher Bunker. So hoch, dass ich den Kopf so in den Nacken legte beim Fotografieren, dass ich dachte, hoffentlich halten die Halswirbel. Links von mir ein alter länger Bauzaun. Dahinter wunderschöne alte Gebäude. Wie aus einem anderen Jahrhundert. Eine Szenerie wie ein ausgestorbenes Goldgräberstädtchen. Alte Schilder, Straßen, Gebäude, Bushaltestelle zur Zeche Lerche, an der ich kurz zuvor vorbeigefahren war. Das "Örtchen" wie ein stummer Zeuge der alten Zeit. Ich schoss viele Bilder, atmete die historische Luft ein. Es wehte ein warmer, weicher Wind. Vögel flatterten umher, trällerten, schimpften, zwitscherten im Stakkato kleine schnelle Melodien. Als hätten sie mich bemerkt, informierten sich gegenseitig aufgeregt, beäugten mich. 

Ich sog die Luft und die Atmosphäre förmlich in mir auf, schoss hier und da ein Bild, pflückte Blümchen, die zwischen den aufgeplatzen Steinen hervorkrabbelten. Tief versunken in diese Industrielandschaft nahm ich ein knatterndes "Brömm, brömm" war. Ein signalgelber Bodybilder auf deinem Miniaturmotorrad fuhr auf mich zu, bremste, dass der Schotter umherstob und beäugte mich. Erstmal stumm. Ich auch. Soll er doch sein Begehr äußern. Ich wartete. Er: "Sie dürfen hier nicht sein". Fiepstimme. Passte gar nicht zu der lächerlichen Figur in signalgelb. Ich erklärte mich. Und wieder nutzte ich meinen "ich-mache-mich-niedlich-klein-und-dich-damit-wichtig-und-groß"-Charme und erklärte ihm sehr sehr nett, was ich hier zu tun gedachte, bzw. ja schon getan hatte. Er grummelte in sich hinein. DAS war meine Chance. Ich fragte ihn, was das hier sei und was in Zukunft damit geschehen würde. Das taute den Chef-Charmbolzen sichtlich auf. Er erzählte mir, was es mit der alten Kokerei auf sich hatte, seit wann sie stillgelegt sei und dass die alten Gebäude unter Denkmalschutz stünden. Der alte fette Riesenbunker in der Mitte des Geländes und die abgebrannte Kokereihallte mit der Wunde an der Seite werden abgerissen. Es gebe Investoren, die aus dem Gelände eine Kulturstätte entstehen lassen möchten. Ich hörte gespannt zu. Mit dem Hinweis, ich müsse aber nun wirklich gehen, fuhr er mit seinem Brömm-brömm wieder los. 

Als ich zum Auto ging, kam der Wärtermensch aus seinem Bunker und fragte mich, was der Obersicherheitsbeauftragte zu mir gesagt habe. Ich musste lachen, er auch. Wir begrüßten uns mit Ghetto-äh-Corona-Faust und plauderten miteinander. Tauschten uns aus über rotten places, komische Menschen, alte Geschichte. Woher er kam, woher ich und vieles mehr. Ein hübscher Mann, zog es durch meine Gedanken. Nettes Gesicht, braune Augen, schwarze Brille, graue Haare. Viele graue Haare. In dem Alter noch eine Frisur, ach was, ein Haupt mit schöner grauer Welle. Ein bisschen wie Jeff Bridges. Er bedankte sich für den netten Kontakt, ich fuhr los. Was ein netter Mensch, was ein schöner Mensch, was eine freundliche Natur, was ein Geschenk. Das alles dachte ich, während ich vom Hof rollte. Keine Nummern ausgetauscht, ein bisschen schade. Aber nur ein winziges Bisschen. Manchmal hat man einfach nette Begegnungen mit netten Menschen. Geht aber nur, wenn man selber nett ist.

Voll mit schönen Bildern und einem neuen schönen Sessel im Wohnzimmer lächel' ich mit hinein in den Abend dieses wunderbaren Tages!